Als einer der ersten Bewerber für das Thema Organspende, hat sich Joscha angeboten und in einer leichtfüßigen Runde per Zoom seine Pläne bei Kunstliche Intelligenz ausgelegt. Im Ergebnis haben wir uns auf eine Vorschau seiner Gedanken, Überlegungen und Auseinandersetzungen verständigt und nun etwa 2 Wochen danach seine Ausarbeitung erhalten. Dafür danken wir natürlich von Herzen und sind beeindruckt von seiner Liebe zum Detail.


Joscha Lerche | Essay zum menschlichen Reduktionismus am Beispiel der Organspende
Vorab möchteich klarstellen, dass ich mit diesen Zeilen keine Anleitung für eine objektiv begründete „richtige“ oder „falsche“ Entscheidung aufstellen möchte. Die ethisch-moralische Frage der Organtransplantation ist zu komplex und weitreichend, um die Antwort verallgemeinern zu können, weswegen der Umgang damit letztendlich in den Händen jedes Individuums selbst liegt.
Ich erhebe also keinen allgemein gültigen Anspruch auf die Wahrheit eines jeden Einzelnen, wenn man allerdings die Art der medial aufbereiteten Diskussions- und Konfliktführung rund um dieses Thema betrachtet, lassen sich Rückschlüsse auf eine grundlegende menschliche Verhaltensweise ziehen – den ausgeprägten Hang zum Reduktionismus.
Seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren bastelt sich der Mensch Werkzeug und seit etwa 15.000 Jahren betreibt er gezielt Ackerbau um sich einfacher und verlässlicher ernähren zu können. Seitdem sind wir mit immer komplexer werdendem Spielzeug weit gekommen. Dennoch ist unsere Technologie eine kopierte und vereinfacht reproduzierte Version dessen,
was wir um uns herum in der Natur wiederfinden können. Beispielsweise beschreibt die Funktionsweise des Internets eine Art anorganische Analogie zu Mycelnetzwerken als Kommunikationsgrundlage für Wälder oder der Mensch empfindet Bananenschalen nicht als praktisch genug, schält die Banane und verschweißt sie in Plastik.
Alles, was Homo Sapiens Sapiens unter die Lupe bekommt, wird am menschlichen Maßstab der praktischen Nutzbarkeit bemessen, auf jene reduziert und in dieser Form reproduziert um kurzfristig größtmögliche Rendite zu erzielen. Auf diese Art entstanden Monokulturen, Massentierhaltung und Braunkohlekraftwerke, welche alle in einigen Bereichen kurzfristig ihren utilitaristischen Zweck erfüllten. Mit der Zeit erkennen wir hingegen langsam aber stetig ihre desaströsen Langzeitauswirkungen.
Wenden wir diese Tendenz zur mangelhaft überlegten Kurzfristigkeit nun auf das Gesundheitssystem an, zeichnet sich auch hier ein gewisser roter Faden ab. Vom Aderlass im Spätmittelalter über die Entwicklung und Verwendung des hauseigenen
Heroins gegen alle Problemchen von Husten bis Stimmungstief von Seiten der Bayer AG und die legitime Praxis der Lobotomie um gekonnt psychologischer Diversität entgegenzuwirken bis hin zur Öffnung menschlicher Körper und der Transplantation eines lebenden Organes in ein fremdes System. Und unter Abstrichen in punkto „Weitsichtigkeit und ganzheitliche Konsequenzen“ funktionieren all diese Methoden, teilweise.
Sicherlich hilft Heroin gegen Stimmungstiefs und nach einer Lobotomie hat der Patient vermutlich auch weniger zu beklagen. Und Organspende rettet Leben, das ist ein Fakt, wenn man den Menschen als Gesamtsystem ausklammert. Die zur Organspende herangezogene Hirntoddiagnose weißt nämlich meiner Meinung nach eine gewaltige Lücke in ihrer logischen Stichhaltigkeit auf.
Um Konsens zu schaffen wird in der Empirik und Logik normalerweise jeder Begriff vor Verwendung genau definiert, dies bildet einen kommunikativen Common Ground. In diesem Fall wird allerdings mit dem Begriff „Seele“ oder „Geist“ gearbeitet, im Kontext der gigantischen Ungewissheit darüber, was der Tod selbst eigentlich bedeutet.
Die Hirntoddiagnose lokalisiert die menschliche Seele im zentralen Nervensystem, ist dieses beschädigt, kann der Rest des Körper und des peripheren Nervensystems als Ersatzteillager verwendet werden. Dabei wird außen vorgelassen, wie undefiniert und abstrakt die „Seele“ als religiös-spirituelles Konzept eigentlich ist.
Die Legitimation der Transplantationsmedizin fußt auf einer Verkettung definitorischer Platzhalter und der Reduktion des Menschen auf eine materialistische Körper-Maschine. Abermals finden wir das Prinzip der Vereinfachung und Instrumentalisierung eines x-fach komplizierteren Systems, als wir nach aktuellem Wissensstand abschätzen können.
Dies ist der Punkt, an dem wir den Bereich der messbaren Naturwissenschaften verlassen und Religion, Spiritualität und Metaphysik zu einem Spielplatz der philosophischen Hypothese werden, ein Ort, welcher enorm wichtig und ernst zu nehmen ist, in Angesicht des Versuches, Naturwissenschaft in den Bereich des Unbegreifbaren, des Todes und der Transzendenz auszuweiten.
In diesem Feld wird der Mensch als Manifestation und Teil eines energetischen Gesamtsystems verstanden. Egal ob von einem „Gott“ gesprochen wird, der „den Menschen nach seinem Abbild formte“, wir alle eins in der Weltenseele sind oder die String-Theorie darauf schließen lässt, dass sich auf subatomarer Ebene die gesamte Wirklichkeit aus Schwingung, aus Energie zusammensetzt, bei alledem handelt es sich um unterschiedliche Worte für das selbe Phänomen – es ist alles mehr als nur das, was wir messen können.
Solange wir das Wechselwirkungessystem aus „Seele“ und seiner physischen Manifestation „Körper“ nicht verstehen, können wir nicht abschätzen, wie weit ein solcher Eingriff tatsächlich reicht und welche Auswirkungen die Sezierung des Körpers während des künstlichen Sterbeprozesses auf die Todeserfahrung seiner metaphysikalischen Entsprechung hat.
Ebenso wird der Spendeempfänger durch die Entnahme des kranken Organs zunächst in einen Zustand des theoretischen Todes versetzt, woraufhin ein Bestandteil eines fremdartigen energetischen Systems nun diese Lücke füllen und sich integrieren soll. Diesen eigentlich höchstgradig intimen Prozess des Transfers eines energetischen Bauteils zwischen zwei Individuen in entgegengesetztem Sterbezustand möchte ich mit meiner Zeichnung visualisieren, indem ich die Darstellung zweier mechanisierter Organismen als Skelett mit dem Ineinanderfließen derer Nicht-körperlicher Entsprechung hinterlege.
Dieser Text soll den Leser sensibilisieren auf jene Interaktion mit der Welt, welche sich nicht in Zahlen festhalten und in Graphen darstellen lässt. Er soll den Leser dazu animieren, seine eigene Meinung nicht nur aus den verschiedenen Sichtweisen der rationalistischen Schulmedizin, sondern auch aus einer legitim emotionalen und intuitiven und vor allem individuellen Perspektive zu bilden oder zu erweitern.