Wenn wir über die Organspende nachdenken, kommen einem durchaus Bilder in den Kopf, wie ein Handtaschen großer Behälter aus einem gerade gelandeten Hubschrauber dem medizinischem Personal auf dem Dach eines Krankenhauses überreicht wird. Im Film ist das gerne mit dramatischer Musik untermalt und in Serien, bei denen Zeit Werbegeld bedeutet, wird dieser Vorgang auch schon mal in Zeitlupe präsentiert. Leben retten ist eben irgendwie spektakulär.
In der Realität ist die Organlogistik sicher nicht weniger dramatös, nur gibt es eben keine musikalischen Einspieler. Noch nicht. Was es aber gibt, ist die Trauer rund um die Organspender*innen und das unfassbare Glück auf der anderen Seite der Medaille. Wer jahrelang auf ein Organ wartet – was ja wohl keine Seltenheit ist – freut sich natürlich heftigst. Logisch.
Das abgetrennte Organ ist aber sicher nur ein Schritt mitten in einer Reihe vieler Schritte auf dem Weg der Verantwortlichkeit. Die Organspende hat eben auch mit Verantwortung zutun. Und ob das wirklich so ist, habe ich Andreas Lindner gefragt. Andreas ist langjähriger Berater bei der SYNNECTA GmbH und hat vor Kurzem die ersten Module eines E-Learnings zum Thema „Verantwortung“ für eine interne Schulung eines Versicherungskonzerns produziert.
Malmö | Hallo Andreas, danke, dass du mir kurz Rede und Antwort schenkst, die ich für meine Ausarbeitung zum Themenzyklus „Organspende“ nutzen darf. Für mich hat Organspende ganz viel mit Verantwortung zutun. Wie sieht du das?
Lindner | Beim Thema Organspende sehe ich Verantwortung in zwei Richtungen. Zum einen natürlich die Verantwortung, die jeder für sich selbst trägt, im Sinne von Autonomie in den eigenen Entscheidungen, z.B. Organe zu spenden oder nicht. Zum anderen die Verantwortung, die sich aus dem sozialen Miteinander mit anderen Menschen ergibt. Diese zweite Perspektive finde ich beim näheren Hinsehen sehr interessant. Wenn ich mir die Situation vorstelle, dass ein Mensch, der mir sehr nahesteht, ein neues Organ benötigt und ich ihm mit einer Organspende helfen kann, wäre das für mich gar keine Frage. Ich würde sofort ein Organ spenden, sofern es mich selbst nicht zu stark schädigt. Interessant ist hier übrigens auch die Frage, was „nahestehen“ für einen bedeutet. Bezieht sich das auf familiäre Bande oder auch auf Freundschaftsbande oder noch weiter darüber hinaus. Die Grenze muss jeder für sich selbst bestimmen. Das Prinzip Verantwortung entsteht aus dem sozialen Gefüge, in dem wir uns befinden. Dieses soziale Gefüge beeinflusst stark, in welchem Umfang wir uns verantwortlich fühlen. Je anonymer das soziale Gefüge ist, desto weniger wird dieses selbstverständliche Verantwortungsgefühl ausgeprägt sein. Die Bereitschaft, seine Organe nach dem Tod zu spenden, hat ganz bestimmt mit dieser Schwierigkeit zu kämpfen.
Wir leben aber nun mal nicht nur im Umfeld unserer direkten sozialen Kontakte, sondern leben in größeren Zusammenhängen. Verantwortung muss daher auch in größeren Zusammenhängen gedacht werden, z.B. Verantwortung in der Gesellschaft oder Verantwortung für unsere Umwelt. In diesen großen Zusammenhängen tritt an die Stelle des spontanen Verantwortungsgefühls ein Verantwortungsbewusstsein, das sich vor allem durch Reflexion und Auseinandersetzung mit größeren, ethischen Fragen ausbildet. In dieser Auseinandersetzung wird hoffentlich dann das Bewusstsein entstehen: „Ja, ich bin ein Teil einer größeren Gemeinschaft oder auch Gesellschaft. Als dieser Teil trage ich Verantwortung auch für gemeinsame Dinge, die uns allen wichtig sind, in dem Sinne, dass wir nur gemeinsam eine ethische Grundlage für unser Handeln entwickeln können und ich genau an diesem gemeinsamen Vorhaben mit meinem Handeln beteiligt bin.“ In diesem Zusammenhang finde ich den Begriff der Reziprozität, ein Grundprinzip des menschlichen Handelns wichtig. Wir Menschen sind voneinander gegenseitig abhängig; durch die Gegenseitigkeit unseres Handelns entstehen überhaupt erst Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen.
Aus dieser Reziprozität ergibt sich für mich die Haltung: Wenn ich im Fall der Fälle selbst einmal auf eine Organspende angewiesen bin und dankbar dafür bin, dann bin ich auch bereit meine Organe zu spenden. Dieses Verantwortungsbewusstsein, wenn es sich von innen heraus entwickelt, kann übrigens wiederum ein Verantwortungsgefühl entstehen lassen, das mir signalisiert, dass ich mich mit meinem Ja zur Organspende im Einklang mit meinen persönlichen Werten befinde. Und das ist doch für jeden ein gutes Gefühl.
Malmö | Du hast dich jetzt auf das Verantwortungsbewusstsein der Spender*innen bezogen, was ja auch das Naheliegende ist. Wo siehst du aber die Verantwortlichkeiten bei denjenigen, die ein Organ erhalten? Bin ich verantwortlich dafür, dass ich ein Organ benötige? Muss ich verantwortlich mit dem gespendeten Organ umgehen?
Lindner | Wenn ich aus gesundheitlichen oder sogar lebensbedrohenden Gründen ein Organ benötige, befinde ich mich zuallererst in einer persönlichen Notlage. Das ist nicht die passende Zeit, um über Verantwortung zu sprechen. Hier ist Hilfe angesagt. Und diese Hilfe sollte jedem Menschen in gleicher Weise geleistet werden.
Die Frage, ob ich verantwortlich bin, dass ich ein Organ benötige, kann sich nur im Rückblick auf mein Leben und meine Lebensführung stellen. Natürlich bin ich verantwortlich für die Gestaltung meines Lebens und auch dafür, wenn dies zu gesundheitlichen Schädigungen geführt hat. Aber ich bin dafür nur mir selbst gegenüber verantwortlich und niemandem sonst. Außerdem wird das Leben und mein Gesundheitszustand durch so viele Aspekte beeinflusst, die im Einzelnen vielleicht gar nicht alle nachvollzogen werden können und die ich vielleicht auch gar nicht selbst beeinflussen kann. Und für Dinge, die ich nicht beeinflussen kann, kann ich auch keine Verantwortung übernehmen.
Muss ich verantwortlich mit dem gespendeten Organ umgehen? Auch hier bin ich der erste Adressat, um dessentwillen ich verantwortlich lebe. Und ich hoffe, dass jeder mit dem Geschenk, das er bekommen hat, sorgsam und verantwortlich umgeht. Ich hoffe auch, dass er sich dieser Kostbarkeit des gespendeten Organs bewusst ist, auch in dem Hinblick, dass andere Menschen dieses Organ nicht bekamen, weil er es bekommen hat. Rechenschaft über mein weiteres Leben und den weiteren Umgang mit dem Organ bin ich wieder nur mir selbst schuldig. Ich glaube und hoffe, dass bei den meisten Menschen eine erneute lebensgefährdende Krise zu einer Korrektur etwaigen Fehlverhaltens führen wird.
Malmö | Ich muss bei meinen Überlegungen zur Organspende auch an das medizinische Personal denken. Ärzte und Ärztinnen müssen vor einer Organspende den „unumkehrbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod)“ feststellen. Diese Form der Verantwortung, auch den Angehörigengegenüber, stelle ich mir als belastend vor. Wie, glaubst du, schaffen es Menschen, mit derart extremer Verantwortung zurechtzukommen?
Lindner | Ärzte und Ärztinnen müssen mit und ohne Organspende zu einem bestimmten Zeitpunkt den Tod feststellen. Diese Entscheidung hat auch ohne Organspende bestimmte Konsequenzen, wenn z.B. weitere lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden. Für diese Entscheidung tragen sie die Verantwortung.
Hier helfen ihnen ihre Ausbildung und ihre Erfahrung und auch die technischen Hilfsmittel, die die entsprechenden Messdaten liefern, welche natürlich von den Ärztinnen und Ärzten interpretiert werden müssen. Um eine Entscheidung zu fällen und den Tod festzustellen, müssen sie sich darauf verlassen können, dass mehrere definierte Faktoren vorhanden sind, die auf den Tod hinweisen. Das sollte ihnen die notwendige Sicherheit und Orientierung in ihrer Verantwortung geben.
Unsere Entscheidungen basieren auf Erfahrungen, die wir bereits gemacht haben und die uns oft auch unbewusst beeinflussen. Viele dieser Erfahrungen können wir gar nicht selbst in unserem Leben machen. Hier greifen wir auf Erfahrungen von anderen zurück, die wir für glaubwürdig halten: Erfahrungen von Ausbilderinnen oder von Expertinnen, Erfahrungen, die in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind. Indem wir die Erfahrungen anderer zur Grundlage unserer Entscheidungen machen, werden diese Erfahrungen dann nach und nach zu unseren eigenen Erfahrungen. Dies gibt uns mehr und mehr Sicherheit für unser Handeln und damit, wofür wir die Verantwortung übernehmen.
Die Sicherheit aus diesen kombinierten Erfahrungen wird den Ärztinnen und Ärzten helfen, mit dieser extremen Verantwortung umzugehen.
Malmö | Zum Schluss komme ich auf die Verantwortung zurück, sich wohlmöglich mit dem Thema der Organspende zu Lebzeiten auseinandersetzen zu müssen. Wenn ich mir heute meinen Organspendeausweis ausstellen lasse, habe ich die Möglichkeit, unterschiedliche Entscheidungen zu treffen. Ich kann mich beispielsweise für bestimmte Organe entscheiden, die entnommen werden dürfen und eben auch nicht. Oder ich erhalte die Option, die grundsätzliche Entscheidung komplett zu delegieren. So heißt es: „Über JA oder NEIN soll dann folgende Person entscheiden …“ Wäre die Entscheidung, mich nicht zu entscheiden, verantwortungslos?
Lindner | Wenn ich die grundsätzliche Entscheidung über die Organspende an eine andere Person delegiere, übertrage ich ihr auch die komplette Verantwortung dafür. Das heißt nicht, dass ich mich selbst verantwortungslos verhalte. Vielleicht kann ich mich, aus welchen Gründen auch immer, einfach nicht entscheiden. Ich bleibe dabei, mein eigenes Leben ist ganz allein meine Angelegenheit und jede Entscheidung, die ich über meinen Körper auch über den Tod hinaus treffe, ist ok. Auch diese, dass jemand anderes über meinen Körper bestimmen soll.
Ich sollte auf jeden Fall mit der anderen Person darüber sprechen, an die ich meine Entscheidung delegiere. Das ist eine Sache der Fairness. Denn vielleicht möchte diese Person die Entscheidung gar nicht für mich übernehmen. Dann darf ich sie ihr auch nicht delegieren. Und ich sollte ihr klar sagen, dass jede Entscheidung für mich letztlich ok ist. Diese Sicherheit sollte ich der anderen Person geben. Wenn dem nicht so ist, dann habe ich die Verantwortung, die Entscheidung selbst zu treffen. Es kann vielleicht hilfreich sein, eine andere Person in der Entscheidungsfindung hinzuzuziehen, wenn diese für mich alleine zu schwierig ist. Entscheiden muss ich aber am Schluss selbst.
Eins muss mir aber bewusst sein: wenn ich die grundsätzliche Entscheidung für oder gegen die Organspende an eine andere Person delegiere, nehme ich mir selbst die Kontrolle über das, was später geschehen wird. Wenn das ok für mich ist – alles gut!
Das Wichtigste für mich ist letztlich, dass jede und jeder liebevoll und wertschätzend mit sich selbst umgeht. Und zwar so liebevoll, dass man auch offen für kritisches Hinterfragen sein kann. Aus dieser inneren Liebe wird sich auch die Liebe zu anderen Menschen entwickeln. In diesem Rahmen wird sich meine Gewissheit bilden, wofür ich mich entscheide und wofür ich die Verantwortung übernehmen will.